Öffentliche und veröffentlichte Meinung: Leserbrief an DIE ZEIT zum Artikel von Ijoma Mangold vom 19.4.2012: Guck mal, wer da spricht.

Unter der Überschrift: Guck mal, wer da spricht schreibt →Ijoma Mangold mit dem Untertitel:

Auch die Debatte um Günter Grass zeigt: Es gibt eine tiefe Kluft zwischen Journalisten und ihrem Publikum 

Ijoma Mangold

Ijoma Mangold

Recht hat er! Aber keine Ahnung, warum ausgerechnet dieser Artikel von Ijoma Mangold nicht in das ‚Werksverzeichnis‘ seiner Elaborate für die Zeitschrift Die Zeit  aufgenommen wurde. Der vollständige Text findet sich am Ende dieses Blog-Eintrages.

Das offizielle Werksverzeichnis findet sich hier: http://www.zeit.de/autoren/M/Ijoma_Mangold/index.XML

Mangolds Thesen reizen zum Widerspruch und vermutlich gab es hunderte von Zuschriften. Nichts davon wurde veröffentlicht. Nachfolgend der Original-Artikel in Auszügen:

Was ist Wahrheit? Jedenfalls nicht das, was in den Medien veröffent­licht wird. Dieser Verdacht greift um sich. Nach jeder großen De­batte, um Martin Walsers Paulskirchen-Rede ebenso wie um den Rücktritt Horst Köhlers, um Thilo Sarrazins Genetik-Theorien wie um Günter Grass’ Israel-Gedicht, verweist die in den Medien unterlegene Seite darauf, sie habe wä­schekörbeweise Briefe der Zustimmung erhalten. Seither gibt es die abschätzige Formulierung von der »veröffentlichten Meinung«. Der Ausdruck will sagen, dass die Meinungsmacher Ansichten und Stimmungen, die in der Bevölkerung weit verbrei­tet .seien, nicht zu Wort kommen lassen…Es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber der Red­lichkeit von medialen Diskursen. Und zwar unabhän­gig davon, auf welcher Seite einer Debatte man sich verortet. Das zeigt die Grass-Erregung bilderbuchhaft. Die Mehrzahl der Argumente, die im Für und Wider erhoben werden, sind wie die Rede vom Tabubruch gar nicht Sachaussagen, sondern Beobach­tungen zweiter Ordnung, sie sind Metadiskurs….Andrian Kreye ist Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, die das Grass-Gedicht abge­druckt hatte…800 Leserbriefe, sagt Kreye, seien bisher in der Münchner Redaktion eingetrudelt…Dabei habe sich die überwiegende Mehrheit für Grass aus­gesprochen…»Hier liegt ein Ordner mit weit über 100 Leserbriefen«, sagt Frank Schirrmacher, Heraus­geber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. »Die sind alle pro Grass.«….Grass’ Gedicht entfalte seine Dynamik durch die »Schuldumkehr«. Schirrmachers düsterer Ver­dacht lautet, dass es genau diese Schuldumkehr ist, die die Menschen als befreiend empfinden. Die gleiche Schuldumkehr habe man auch im Fall Sarrazin beobachten können…»Wir haben noch immer diesen Leitartikler-Gestus, der etwas mit Sen­der und Empfänger zu tun hat. Das wird als Herrenmoral empfunden….«


Mein Leserbrief, abgeschickt am 2.5.

Ijoma Mangold eröffnet in seinem Beitrag eine sehr interessante Diskussion über mediales Selbstverständnis, öffentliche und veröffentlichte Meinung. Konkret nimmt er dabei  Bezug auf die aktuellen Debatten um Sarrazin und Grass. Meines Erachtens bleibt seine Analyse leider mehr an der Oberfläche und nimmt streckenweise einen etwas larmoyanten Unterton an,   dem des unverstandenen Meinungsmachers, der auf ein unwilliges, uneinsichtiges, widerspenstiges Publikum trifft, das zudem noch frech seine abweichenden Ansichten in Leserbriefen zu Protokoll gibt.

Ich fühle mich direkt angesprochen, denn auch ich habe in der Causa Sarrazin zustimmende  Leserbriefe versendet. Von daher fühle ich mich berufen, das Thema von der anderen Position aus zu beleuchten. So unterschiedlich die Sachverhalte bei Grass und Sarrazin sind, sind sie dennoch geeignet einige Mechanismen aufzuzeigen, die im folgenden erörtert werden. Und ich hoffe, daß diese Diskussion im Sinne einer selbstkritischen Nabelschau der „Medienleute“, die sich nicht zu Unrecht auch als „Meinungsmacher“ verstehen, weiter geführt wird.

Da ist zunächst der Eindruck des Außenstehenden, daß die Berufsgruppe der Feuilleton-Journalisten, ähnlich wie etwa Pädagogen und Kabarettisten, eher dem links stehenden Lager zuzuordnen ist. Und daß in den Redaktionsstuben möglicherweise ein Gruppenzwang herrscht, der zu sehr auf Political Correctness ausgerichtet ist in dem Sinne,  daß den Empfehlungen des Presserates mehr als nur hundertprozentig gefolgt wird. Zudem möchte man es sich als Journalist mit den „machthabenden“ Politikern ungern als Interviewpartner verderben. Und die mögen nun mal keine Tabubrecher und verweigern denen dann die Termine. Aber dieser  Ansatz greift in den zu betrachtenden Fällen zu kurz. Betrachten wir die angesprochenen Beispiele:

Sarrazin: Hier ist zu unterscheiden zwischen denen, die das Buch tatsächlich gelesen haben und jenen, die sich auf Grund von Meinungsäußerungen Dritter ihr  eigenes Bild geformt haben.

Fall a: Diejenigen, welche die vierhundert Seiten dieses Werkes studiert haben, wissen, daß die öffentliche Diskussion  einseitig verkürzt  ausschließlich  um den angeblichen Biologismus geführt wird. Auch Ijoma Mangold stößt in das gleiche Horn, wenn von „Thilo Sarrazins Genetik-Theorien“ spricht und  mein Namensvetter Bernd Ulrich von der „Zeit“  nimmt in seinem Interview am 26.8.2010 nur  diesen einen Aspekt aufs Korn.   Daß Sarrazin eine viel weiter gespannte Argumentation hat, die sich hauptsächlich um das Versagen der Administration und unserer  Bildungs- und Sozialsysteme dreht, geht dabei vollständig unter. Denn ausdrücklich lobt Sarrazin die gelungene Integration osteuropäischer und asiatischer Zuwanderer.  Und betont mehrfach, daß er nur eine Minderheit der türkisch- und arabisch stämmigen Zuwanderer als problematisch ansieht. In seinem Werk kommen etwa Necla Kelek , Ali Hirsi und Bassam Tibi, um nur einige zu nennen, ausführlich zu Wort.  Und auch das deutschstämmigen Prekariat bekommt sein Fett weg.  Sarrazin entwickelt dabei keine eigenen „Genetik-Theorien“, sondern stützt sich ausschließlich auf Forschungsergebnisse wie etwa der Universität Haifa. Derjenige, der dieses Buch gelesen hat, ist darüber bestens informiert. Und ärgert sich natürlich über die mediale Rezeption, die all dies unterschlägt. Und wundert sich über die Chuzpe von Amtsinhabern, die allesamt  damit kokettieren, das Buch nicht gelesen zu haben und es auch nicht lesen zu wollen, aber gleichwohl eine dezidierte Meinung dazu haben. So etwa unser (Ex)-Bundespräsident, die Kanzlerin, der SPD-Chef, Gewerkschaftsführer, etc.  Selbst der Professor der Politologie, der sich im Interview in der Welt vom 7. September 2010 ausführlich zu Sarrazin auslässt, hat mir gegenüber eingeräumt, das Werk zu dem Zeitpunkt noch nicht gelesen zu haben.  Nach meinem Empfinden, und da spreche ich für viele Leserbriefschreiber, bleibt das auf der Strecke, was wir gemeinhin als „Fairness“ bezeichnen.

Zugegeben: Auch ich empfand Schadenfreude über die bedauernswerten Mitglieder jener SPD-Kommission, die über ein Parteiausschlussverfahren zu befinden hatte. Denn die mussten sich samt und sonders widerwillig durch die schwer verdauliche Kost von über 400 Seiten, gespickt mit Statistiken und Querverweisen, hindurch beißen. Um dann am Schluss zähneknirschend festzustellen, daß nichts drin steht, was für einen Rauswurf aus der SPD  justiziabel ist.

Fall b:  Obwohl sich „Deutschland schafft sich ab“ mehr als 1,5 Mio. mal verkauft hat, dürfte die Mehrheit der Deutschen das Buch nicht gelesen haben. Statt dessen werden sie  lediglich die Debatte um die angebliche „erbliche Dummheit“  bei Muslimen verfolgt haben. Ein bekanntes Schema: Man unterstellt dem Gegenüber einfach eine verwerfliche und gesellschaftlich geächtete Aussage, um dann umso heftiger zu prügeln. Die Türken sind von  Geburt an blöd, diese Aussage wurde Sarrazin fälschlicherweise vom Stern und anderen Medien unterstellt. Nun wird  die Diskussion ausschließlich  auf das eine Thema verengt: Inwieweit haben geistige Fähigkeiten eine erbliche Komponente? Daß körperliche Eigenschaften vererbt werden, daran sind wir  gewöhnt und das haben wir auch verinnerlicht. Selbst  bei gutem Training wird etwa ein Pykniker nie Weltklasse im Basketball oder im Stabhochsprung erreichen.  Und wenn jemand im Oberstübchen unterbelichtet ist dann hilft auch der beste Pädagoge nichts, was nicht rein geht eben nicht rein.  Ich selbst musste  in 13 Jahren Schulzeit und später als Nachhilfelehrer für Mathematik und Latein des Öfteren diese schmerzliche Beobachtung machen. Selbst Bernd Ulrich räumt in seinem Interview mit Sarrazin ein: Die ganze Thematik der genetischen Disposition der Menschen wissenschaftlich richtig.  Dennoch fährt er ohne weitere Begründung fort, daß dies politisch und soziologisch wertlos sei.   Zu recht fragt dann Sarrazin zurück, ob er denn den Dreisatz beherrsche. Dieser Gedankengang könnte weiter vertieft werden: Vermutlich stehen Feuilleton-Journalisten eh mit Zahlen und Formeln auf Kriegsfuß, denn andernfalls hätten sie sich eher für eine Karriere als Ingenieur oder Investmentbanker entschieden. Allesamt Brotberufe, in denen man eher zu materiellem Wohlstand kommt als das Gros der Werktätigen von der schreibenden Zunft.   Die Mehrheit der Bevölkerung ( gleich Leserbriefschreiber) hat indessen die traurige Wahrheit, daß die Schöpfung nun leider nicht jedermann mit den gleichen geistigen Gaben ausgestattet hat, verinnerlicht. Spricht doch schon Jesus in seiner Bergpredigt: Seelig sind die, die da geistig arm sind.  Mir schwant da ein Verdacht: Reagieren etwa Journalisten deshalb so allergisch auf das Thema, weil sie sich selbst betroffen fühlen? Dann sollten sie Trost finden in der Verheißung Christi: Denn das Himmelreich ist ihr.

 Beispiel Grass: Hier ist die Diagnose wesentlich einfacher. Der Leser  musste keinen 400-Seiten-Wälzer durcharbeiten. Wenige Minuten reichen, um die wenigen Zeilen zu lesen und zu verinnerlichen. Dieses „Gedicht“ hat in nahezu allen Medien den bekannten Anti-Antisemitismus-Reflex provoziert.  Alles andere wäre in diesem Land auch äußerst ungewöhnlich gewesen. Grass musste damit rechnen.  Dennoch blieb das Echo ziemlich flach und folgte vornehmlich einem einfachen Erklärungsmuster: Hier versucht ein alter Mann, um den es still geworden ist, noch mal Aufmerksamkeit zu erheischen.   Hierzu bedient er sich eines als solchen extra zelebrierten, vorgeblichen Tabubruchs. Dabei sollte er als ehemaliger SS-Angehöriger besser den Mund halten. Und die Linken hatten schon von jeher ein gespaltenes Verhältnis zu Israel. So weit, so schlecht. Ende der Diskussion. Frank Schirrmacher versucht noch, das Gedicht als lyrisches Werk zu interpretieren. Als solches ist es tatsächlich katastrophal. Und der bekannteste Literaturkritiker sekundiert: Ein ekelhaftes Gedicht.

Erstaunlich, daß kaum jemand versucht hat, die tatsächlichen Beweggründe von Grass genauer zu hinterfragen. Warum tut ein so bekannter Literat, obendrein Nobelpreisträger, seiner Reputation derartiges an? Grass selbst hat im Interview wenige Tage später eine Erklärung gegeben: Wenn es zur Katastrophe kommt, dann will er nicht zu denen gehören, denen man posthum vorwerfen wird, angesichts des sich abzeichnenden Unheils geschwiegen zu haben. Damit offenbart er ein Dilemma: Wenn Israel tatsächlich als erster Staat nach 1945 Kernwaffen in einem kriegerischen Konflikt einsetzt, dann war seine Warnung berechtigt. Sollte hingegen Israel auf den atomaren Angriff verzichten, dann bleibt sein Gedicht für die Nachwelt das Krakeelen eines alten Wichtigtuers. Selbst wenn er mit seiner Aktion sein Scherflein dazu beigetragen haben sollte, daß sich die Falken im Nahen Osten noch mäßigen.   Aber dieser Effekt wäre ex post nicht messbar.

Bleibt eigentlich nur die logische Schlussfolgerung:  Grass rechnet fest mit einem israelischen Atomschlag.  Und er möchte die Genugtuung, Recht gehabt zu haben,  noch erleben.  Diese Welt wird dann, und darüber dürfte Einigkeit herrschen,  eine andere sein als zuvor.

Ist diese Vorstellung so abwegig? Denn offenbar wird dieser gedankliche Faden  in der  Medienlandschaft hierzulande nirgends aufgenommen. Dabei fand erst vor einigen Wochen im Anschluss  an einen Staatsbesuch die gemeinsame Pressekonferenz des amerikanischen Präsidenten  mit dem israelischen Premier statt.  Wer das sorgenvollen Gesicht von Obama gesehen hat braucht nicht viel Phantasie um sich auszumalen, worüber die beiden wohl geredet haben.  Zumal in der internationalen Presse anschließend bereits über den optionalen Zeitpunkt eines Angriffs auf den Iran spekuliert wurde.

(Grass spricht mit Blick auf den Perser vom Maulheldentum: dabei hatte noch vor nicht allzu langer Zeit  der derzeitige israelische Außenminister  den Ägyptern mit der Zerstörung des Assuan-Staudammes gedroht. Dann würde die Millionenstadt Kairo mitsamt ihren Einwohnern zwar nicht durch die  Atombombe, sondern durch eine gigantische Flutwelle ausgelöscht. Ernstzunehmende Drohung oder nur  Äußerung  eines Maulhelden? Die deutsche Presse gibt keine Stellungnahme…)

Den meisten Menschen dürfte das Rauschen im Blätterwald rund um  die lyrischen Schnitzer von Grass, die Schuldumkehr im Schirrmacherschen Sinne oder die Zuschreibung  des Antisemitismus ziemlich gleichgültig sein. Sie interessiert  die Frage, ob es zum Krieg um die Atomanlagen kommen wird. Das, vor dem Grass warnen will. Und da hüllen sich die Feuilletonisten in Schweigen.

Der Durchschnittsbürger, je nach Kontext mal als Otto Normalo oder Lieschen Müller bezeichnet, hat ein einfaches, intuitives Verständnis von Recht und Gerechtigkeit. Er verfolgt die täglichen Nachrichten vom Nahostkonflikt und sieht, wo  Gewalt ausübt wird und wer unter Gewaltherrschaft leidet.  Und wundert sich über die Kommentierung in den Medien.

Es gibt in der Tat eine tiefe Kluft zwischen Journalisten und ihrem Publikum. Auch dieser Beitrag beschreibt nur Symptome. Die Ursachen? Der Leserbriefschreiber äußert seine Gedanken unbefangen. Der Journalist wird für das, was er zu Papier bringt bezahlt. Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich sing?  Konformismus in Redaktionsstuben? Die Diskussion verdient es, fortgeführt werden. Es geht um mehr als nur verschiedene Sichtweisen auf dieselben Dinge.

Eine persönliche Bemerkung: Ich hoffe inständig, daß Grass mit seiner Vermutung unrecht hat.

  >>> Der Leserbrief wurde nicht veröffentlicht <<<<

nachfolgend der ursprüngliche Text in der „Zeit“  im vollen Wortlaut:

Was ist Wahrheit? Jedenfalls nicht das, was in den Medien veröffent­licht wird. Dieser Verdacht greift um sich. Nach jeder großen De­batte, um Martin Walsers Paulskirchen-Rede ebenso wie um den Rücktritt Horst Köhlers, um Thilo Sarrazins Genetik-Theorien wie um Günter Grass’ Israel-Gedicht, verweist die in den Medien unterlegene Seite darauf, sie habe wä­schekörbeweise Briefe der Zustimmung erhalten. Seither gibt es die abschätzige Formulierung von der »veröffentlichten Meinung«. Der Ausdruck will sagen, dass die Meinungsmacher Ansichten und Stimmungen, die in der Bevölkerung weit verbrei­tet .seien, nicht zu Wort kommen lassen.

 Aber die Sache ist komplizierter. Denn die Unter­stellung eines Meinungskartells ist längst zu einem Standard-Argument geworden, mit dem sich die streitenden Parteien im Voraus versorgen: Wer für seine Position plausibel machen kann, vom Main­stream abzuweichen, eine Sprachregelung verletzt odereinen Maulkorb ignoriert zu haben, hat schon halb gewonnen. Deswegen wird bei allen Debatten ein erheblicher Teil der rhetorischen Energie auf die Frage verwendet, ob das, was gesagt wurde, ein Tabu oder umgekehrt längs« gängige Münze sei. Günter Grass hat diese Diskurs-Schablone zum Kern seines Israel-Gedichts gemacht, das sich explizit als mutiger Tabubruch um des Weltfriedens willen inszeniert. »Dieses Gedicht«, erklärte Grass der Deutlichkeit halber noch einmal in einem Interview, »ist eine Aus­einandersetzung mit dem Schweigen und eine Auf­forderung, über Themen zu diskutieren, die bislang in Deutschland tabuisiert waren. «

 Es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber der Red­lichkeit von medialen Diskursen. Und zwar unabhän­gig davon, auf welcher Seite einer Debatte man sich verortet. Das zeigt die Grass-Erregung bilderbuchhaft. Die Mehrzahl der Argumente, die im Für und Wider erhoben werden, sind wie die Rede vom Tabubruch gar nicht Sachaussagen, sondern Beobach­tungen zweiter Ordnung, sie sind Metadiskurs. Das fangt schon damit an, dass fast jeder, der sich zum Thema meldet, ob auf Facebook, beim Tischgespräch oder in den Medien, erst einmal zu verstehen gibt, dass ihn die ganze Debatte anöde. Die heftigsten Debatten sind die, von denen alle sagen, sie seien total öde. Aber auch die regelmäßig vorgetragene Ansicht, die Medien seien auf das Selbstmarketing von Günter Grass hereingefallen, ist Metadiskurs. Nicht anders das Argument, die ganze Diskussion sei »typisch deutsch« -ein Argument, das immer fällt und in alle Richtungen funk­tioniert. Am Ende wird jede Debatte zu einer Debatte über Debattenkultur. Woran. liegt das? Offenbar haben viele Leute das Gefühl, es würde nicht mit offe­nem Visier gekämpft. Auch ist jeder vom eigenen frommen Herzen so tief überzeugt, dass er sich abweichende Meinungen nur mit latenten Diskursinteressen oder versteckten Machtstrukturen erklären kann.

 Andrian Kreye ist Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, die das Grass-Gedicht abge­druckt hatte. Innerhalb der Zei­tung gab es Diskussionen, ob man das Gedicht drucken solle oder nicht. -Vor allem«, sagt Kreye, »weil das Gedicht inhaltliche Fehler hatte: Die Rede vom »Erstschlags was nun einmal einen atomaren Erstschlag meint, war ein solcher Fehler. Ebenso die Rede von der Auslöschung des irani­schen Volks. Doch Günter Grass kann man viel­leicht lektorieren, aber nicht redigieren.«

 800 Leserbriefe, sagt Kreye, seien bisher in der Münchner Redaktion eingetrudelt. Das werde allenfalls getoppt von der Guttenberg-Causa und der Wulff-Debatte (jeweils etwa 1200 Leserbriefe, aber über einen längeren Zeitraum). Dabei habe sich die überwiegende Mehrheit für Grass aus­gesprochen und eine intensivere Beschäftigung der Medien mit der Atompolitik Israels gefordert. Auch Kreye sieht eine auffallende Diskrepanz zwischen den professionellen Kommentierungen durch die Journalisten (auch in seiner eigenen Zeitung) und den Reaktionen der Leser: Bei den Leserbriefen gehe es mehr um Israel und dessen Politik, während in den Kommentaren die Figur Grass im Mittelpunkt stehe. Den Aufklärungsbedarf allerdings, der Grass und viele Leser be­haupten, gebe es keineswegs: Die Medien hätten schon immer umfassend über die Atommacht Israel berichtet.

 »Hier liegt ein Ordner mit weit über 100 Leserbriefen«, sagt Frank Schirrmacher, Heraus­geber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. »Die sind alle pro Grass. Das ist schon interessant. «  Schirrmacher hatte das Grass-Gedicht nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Er hält es in seiner Empfindungslosigkeit für barbarisch. Jetzt muss er umgehen mit einer Leser-Resonanz, die ganz anders ausfällt. »Ist das eine repräsentative Stimmung, die gegen uns läuft? Viele Journalis­ten glauben das. Aber darin liegt eine große Gefahr. Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt so eine Art inhaltliche Filter-Bubble: Be­stimmte Themen rufen bestimmte Leserbriefschreiber auf. « Dieses Phänomen sei immer dort zu be­obachten, wo es um angeblich deutsche Tabus gehe: ob bei Sarrazin oder bei Grass. »Mit Sarrazin gab es eine Gegenöffent­lichkeit, die den Journalismus verändert hat«, sagt Schirrmacher.            »Aber ich frage mich: Was ist es eigentlich, was die Leute sagen

wollen, von dem sie behaupten, es nicht sagen zu dürfen? « Grass’ Gedicht entfalte seine Dynamik durch die »Schuldumkehr«. Schirrmachers düsterer Ver­dacht lautet, dass es genau diese Schuldumkehr ist, die die Menschen als befreiend empfinden. Die gleiche Schuldumkehr habe man auch im Fall Sarrazin beobachten können: »Es wurde nicht gefragt: Integrieren wir vielleicht falsch? Sondern schuld war das Erbgut der Einwanderer. «

Schirrmacher sieht den Journalismus in ei­ner Übergangsphase: »Wir haben noch immer diesen Leitartikler-Gestus, der etwas mit Sen­der und Empfänger zu tun hat. Das wird als Herrenmoral empfunden. Durch das Internet stellen wir fest: Es gibt sehr viele Menschen in Deutschland, die gerne schreiben. Auch gut schreiben. Da muss sich erst wieder ein neues Gleichgewicht bilden. «

 Die Bild-Zeitung genießt den Ruf, das Ohr besonders nah an der Stimme des Volkes zu ha­ben. Doch gibt man dort generell keine Auskunft über Leserreaktionen. Aber auch Nikolaus Blome, stellvertretender Chefredakteur, vermutet, dass das Thema Israel bestimmte Leute zur Feder greifen lasse: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das repräsentativ ist. «

>>>> Ende des Textes <<<<<

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